| Bildung statt PISA – Seriosität statt  Legendenbildung von Josef Kraus Präsident des Deutschen  Lehrerverbandes 19. November 2008 Ganz so heftig wie in den Jahren zuvor waren Deutschlands  PISA-Konvulsionen diesmal nicht. Von einem gelassenen Umgang mit  PISA-Ergebnissen, wie man ihn in allen anderen Ländern der Welt pflegt, kann  aber noch lange nicht die Rede sein. Also gingen bereits drei Tage vor dem  jüngsten 18. November, vor der Bekanntgabe der neuesten Auswertung zu PISA  2006, publizistisch und politisch die Wogen hoch. Da wurde spekuliert,  interpretiert, prognostiziert, natürlich auch ideologisiert, dass sich die  Balken bogen. Selbst nach Vorliegen der Ergebnisse funktionierten die seit der  ersten PISA-Testung von 2000 eingespielten Reflexe: Zur Weltspitze fehle den  Deutschen immer noch ein großes Stück, schuld am schlechten Abschneiden mancher  Länder seien die Hauptschulen, die Finnen mit ihrer Gesamt- und  Gemeinschaftsschule seien uns eben haushoch überlegen, gute Bildung hänge immer  noch sehr vom Geldbeutel der Eltern ab usw. „Getretner Quark wird breit, nicht stark.“ An dieses  Goethe-Wort fühlt man sich bei so viel Quatsch erinnert. Da tut ein Blick in  die Faktenlage not und gut. Worum ging es diesmal? Es ging um die Studie PISA-E  2006 mit Schwerpunkt Naturwissenschaften. Das E steht für Erweiterungsstudie.  Das heißt: Die internationale PISA-Testung (PISA = Programme für International  Student Assessment) war – wie bereits 2000 (Schwerpunkt Lesen) und 2003  (Schwerpunkt Mathematik) – um eine innerdeutsche Zusatzstudie ergänzt worden.  Bei der international angelegten PISA-Studie waren in Deutschland knapp 5.000  Schüler aus 230 Schulen getestet worden, für die nationale PISA-E-Studie war  die Stichprobe um 40.000 aus 1.300 Schulen erweitert worden. Zu den wichtigsten Ergebnissen: Sachsen hat innerdeutsch in  allen drei Testbereichen (Naturwissenschaften, Lesen, Mathematik) mit Werten  von 541 bzw. 512 bzw. 523 den ersten Platz errungen. Bayern folgt in dichtem  Abstand mit 533 bzw. 511 bzw. 522 Punkten. Die dritten und vierten Plätze  gingen an Baden-Württemberg und Thüringen. Dieses Länder-Quartett hatte bereits  bei zurückliegenden Testungen die vorderen Plätze unter sich ausgemacht.  Schlusslichter waren einmal mehr Hamburg und Bremen.  Bleiben wir beim Schwerpunkt Naturwissenschaften: Hier kamen  14 der 16 Bundesländer über den OECD-Durchschnittswert von 500. Die Sachsen,  die Bayern und die Thüringer nehmen mit ihren Werten auch in der  internationalen Tabelle Spitzenwerte ein. Sie rangieren alle drei dicht hinter  dem PISA-Sieger Finnland. Und: 14 der 16 deutschen Länder erreichen bzw.  übertreffen das PISA-Ergebnis des seit Jahrzehnten hochgerühmten Schweden. Rekapituliert sei auch ein Ergebnis, das aus PISA 2006  bereits seit Dezember 2007 bekannt ist, damals aber aus durchsichtigen Gründen  kaum kommuniziert wurde: Im Testbereich Naturwissenschaften hatten die  verschiedenen Schulformen in Deutschland ein – erwartungsgemäß – sehr  unterschiedliches Ergebnis erzielt. Die Hauptschulen waren auf 431, die  Gesamtschulen trotz luxuriöser Personalausstattung auf 477, die Realschulen auf  525 und die Gymnasien auf 598 Punkte gekommen. Dem Gymnasium in Deutschland war  damit – und dies ohne die sonst üblichen großen Unterschiede zwischen den deutschen  Ländern und trotz unvermindert steigender Übertrittsquoten – erneut bestätigt  worden, dass es die erfolgreichste Schulform der Welt ist. Unter dem Strich sind das durchaus passable Ergebnisse. Die  Zeiten, in denen Deutschland sich im schulpolitischen Sündenstolz gekrampft zum  absoluten PISA-Verlierer glaubte schlechtrechnen zu können, müssten insofern  vorbei sein und einem Minimum an Rationalität Platz machen. Müssten! Denn manch  journalistischem und politischem Nörgler passen diese Ergebnisse nach wie vor  nicht in den Kram. Während die einen kaum verhohlen ihre Freude bekunden, dass  die Bayern vom ersten Platz verdrängt wurden, sehen andere alle noch so schönen  Ergebnisse überlagert von der angeblichen sozialen Ungerechtigkeit des  deutschen Schulwesens. Wieder andere sehen den Erfolg der Sachsen als Ergebnis  einer dort nicht vorhandenen Hauptschule, und flugs wird nach dem  Finnland-Mythos bereits an einem neuen Mythos gestrickt, diesmal einem  Sachsen-Mythos. All dies entbehrt der Grundlagen. Erstens sind die Bayern  nicht abgestürzt, sondern dicht hinter den Sachsen. Dass die Bayern diesmal  Zweiter wurden, ist vielleicht gar nicht so schlecht, denn sonst könnten sie  sich womöglich noch mit ihren jüngsten schulpolitischen Fehlentscheidungen  (siehe achtjähriges Gymnasium) bestätigt fühlen. Zweitens kann man – auch wenn  es so mancher nicht verstehen will – die soziale Durchlässigkeit eines  Schulwesens nicht mit PISA messen. PISA testet schließlich Fünfzehnjährige und  setzt deren Testergebnisse in Beziehung zum schichtspezifischen  Gymnasiastenanteil. Das vermeintlich alarmierende Ergebnis dieses Verfahrens  lautet: Arbeiterkinder sind unter Gymnasiasten unterrepräsentiert. Solche  Aussagen sind wissenschaftlich und statistisch aber völlig unzulässig. Denn einen  Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und Schulniveau gibt es in allen  Ländern der Welt – in manchen Ländern der Welt etwas stärker, in anderen  Ländern weniger stark als in Deutschland. Vor allem aber: Fünfzehnjährige haben  ihre Bildungslaufbahn noch lange nicht abgeschlossen. Sieht man nur die  Fünfzehnjährigen, so vernachlässigt man völlig, dass von 100  Studienberechtigten in Deutschland je nach Land zwischen 43 und 50 Prozent  diese Studierberechtigung nicht über ein Gymnasium erwerben – und das natürlich  erst nach dem 15. Lebensjahr und zu erheblichem Teil aus sog. bildungsferneren  Schichten. Auch besteht kein Anlass, jetzt an einer Sachsen-Legende zu  stricken und so zu tun, als sei Sachsen deshalb Spitze, weil es keine  Hauptschulen habe. Viel entscheidender ist hier, dass die ostdeutschen Länder  die naturwissenschaftlichen Fächer mit höheren Stundenzahlen fahren, dass sie  aufgrund des dramatischen Geburtenrückgangs mit erheblich kleineren Klassen und  mit Fördergruppen arbeiten können und in ihren Klassen nur einen Bruchteil des  Migrantenanteils westdeutscher Länder haben. Unter Sachsens Schülern sind es  3,6 Prozent Migranten, in Baden-Württemberg ist der entsprechende Anteil 26,8,  in Bayern 18,4 und in NRW 24,9 Prozent (in Finnland übrigens 1,2 Prozent). Das  schmälert den Erfolg der Sachsen keineswegs. Vor dem Hintergrund der sehr  unterschiedlichen schulischen Rahmenbedingungen aber hat die  nordrhein-westfälische Kultusministerin Barbara Sommer nicht so ganz unrecht,  wenn sie einen Vergleich der PISA-Ergebnisse ihres Bundeslandes (503 Punkte)  mit den 541 sächsischen Punkten für etwas ungerecht hält.  Nun, die Kultusminister werden sich in den meisten deutschen Ländern für  ein paar Tage freuen dürfen, aber dann gilt es, wieder in die Niederungen zu  steigen und konkret etwas für die Schulen zu tun. An vorderster Stelle müssen  dabei die Schaffung kleinerer Klassen, die Einrichtung von Förderkursen für  schwache und für hochbegabte Schüler sowie die Bewältigung des Lehrermangels in  Mathematik und in den naturwissenschaftlichen Fächern stehen. Zugleich darf die  PISA-Messerei nicht zum Selbstzweck werden. Andernfalls droht uns ein  verarmtes, erbärmliches Verständnis von Bildung. „Bildung statt PISA“ sollte  das Motto heißen. Bildung ist schließlich erheblich mehr als das, was PISA  misst. PISA hat nämlich überhaupt nichts zu tun mit (fremd-)sprachlicher,  literarischer, historischer, politischer, geographischer, religionskundlicher,  ethischer und ästhetischer Grundbildung. Wer also meint, es komme nur noch auf  PISA-Tabellen an, der degradiert Bildung zum Klonen von Funktions-Fuzzis.  Grundprinzip eines seit Jahrhunderten weltweit anerkannten  Bildungsverständnisses der Deutschen ist es aber, dass man in der Schule im  Interesse von Persönlichkeitsbildung und kultureller Bildung größten Wert eben  auch auf das Nicht-Messbare und Übernützliche legt. Also bitte: Nehmen wir  PISA-Ergebnisse als interessante Diagnose eines Ausschnitts des schulischen  Lerngeschehens, und gehen wir damit so gelassen um, wie es weltweit viele  vermeintliche PISA-Sieger und PISA-Verlierer tun.  |